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Ferdy Kübler und Hugo Koblet

Rivalen auf dem Höhepunkt

Vor siebzig Jahren erreichte der Zweikampf der Schweizer Radsporthelden Ferdy Kübler und Hugo Koblet ihren Zenit. Die längste Ausgabe der Tour de Suisse wurde 1951 auch deshalb zur wohl denkwürdigsten.

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Ferdy Kuebler und Hugo Koblet, Radsport, SI SPORT 01/2021, 1950 Tour de Suisse
RDB

Die Luft im Pneu – so wichtig wie der Sauerstoff im Blut. Wer Mitte des vergangenen Jahrhunderts als Radprofi Rundfahrten gewinnen wollte, musste nebst starken Beinen auch das Glück haben, möglichst selten von einem Platten heimgesucht zu werden. Er bedeutete in der Zeit vor den rasch zu Hilfe eilenden Serviceleuten im Tross der Begleitfahrzeuge in der Regel einen Zeitverlust von ein paar Minuten. Und das konnte ein Rennen entscheiden. «Bei Reifenschaden ist es verboten, mitgeführte bereifte Ersatzräder zu benutzen», hiess es im Reglement. Also musste ein guter Fahrer auch ein guter Velomechaniker sein, weil er den Platten selber zu reparieren hatte. 

Auch in der entscheidenden sechsten Etappe der Tour de Suisse 1951 von Luzern nach Lugano spielt Reifenpech eine entscheidende Rolle. Doch wie oft sich der eine von zwei Tourfavoriten einen Platten einfängt, weiss nur er selbst. Kameras, die das Geschehen auf der ganzen Strecke einfangen würden, gibt es noch nicht. Die Radsportfans müssen sich mit den wenigen Sequenzen der «Wochenschau» begnügen, und erstnoch mit ein paar Tagen Verspätung. Oder sie begeben sich an den Ort des Geschehens: Die Tour de Suisse, 1933 gegründet, ist damals längst ein Publikumsmagnet. Zehntausende säumen den Strassenrand. «Die Schweizer Radrundfahrt ist und bleibt populär, und diesmal ist ihr Erfolg schon deshalb gesichert, weil jedermann sieht, dass auf Biegen und Brechen gefahren wird», schreibt die NZZ 1951. 

Verantwortlich für das Biegen und Brechen sind Ferdy Kübler und Hugo Koblet. Kein anderer Zweikampf der Schweizer Sportgeschichte hat die Massen hierzulande -jemals wieder so bewegt wie der epische Wettstreit der beiden erfolgreichsten einheimischen Radsportler. Dass Kübler und Koblet nicht gegensätzlicher sein könnten, macht die -Sache nur noch interessanter: «Ferdy national» ist der sparsame, eigenwillige Adliswiler Chrampfer mit der markanten Adlernase, der wie wahnsinnig in die Pedale tritt und -deshalb zum «Fou pédalant» wird; Koblet hingegen ist der grosszügige «Pédaleur de charme» aus dem Zürcher Kreis 4, der elegant wie kein anderer Velo fährt, über den Asphalt zu schweben scheint und im Zielraum zuerst nach dem Kamm und einem Schwamm -verlangt, damit er sich den Schweiss aus dem Gesicht wischen kann. Die Frauen liegen ihm zu Füssen, die Kabarettistin Margrit Läubli singt passend dazu: «O Hugo mi, o Hugo mi, ich möcht dii nächscht Etappe si.» Kübler -hingegen gibt den seriösen Kleinbürger, der in der «Schweizer Illustrierten» Haus und Familie präsentiert.

Die zwei charismatischen Rennfahrer spalten in jenen Jahren das Land: hier die Küblianer, dort die Kobletisten. Ihre Rivalität treibt seltsame Blüten: Die Sportreporter-Legende Sepp Renggli (1924–2015) erinnert sich Jahre später in einem Beitrag, wie die Küblianer mithilfe einer Nachmessung empört feststellten, dass für Koblets Tour-Sieg in der Fachzeitung «Sport» grössere Buchstaben verwendet wurden als für Küblers früheren Triumph an der gleichen Rundfahrt. 

Die beiden selbst sind sich viel weniger feindlich gesinnt als ihre Anhänger, wie Kübler versichert: «Wir wussten, dass unsere Rivalität für beide Gold wert war. Jeder Sieg von Hugo spornte mich an, es noch besser zu tun.» Darauf festlegen, wer am Ende der bessere von ihnen beiden war, will sich Kübler zeitlebens nicht. «Wichtig war, dass es uns gab. Und zwar im gleichen Land zur selben Zeit.»

Ferdy Kuebler und Hugo Koblet, Radsport, SI SPORT 01/2021, 1956 Schweizer 6-Tage Rennen

Kaffeetratsch: Koblet (l.) und Kübler sind zwar sportliche Rivalen, doch privat können sie gut miteinander, wie hier während der Zürcher Sixdays 1956.

Keystone

«Mit des Geschickes Mächtigen ist lieber ewiger Bund zu flechten»

Die «Basler Nachrichten» 1951 im Rennbericht poetisch mit einem abgeänderten Schiller-Zitat, als Koblet seinen Widersacher auf dem Oberalppass anscheinend entscheidend abgehängt hatte, um danach wegen Reifendefekten selbst ins Hintertreffen zu geraten.

Ihren Höhepunkt erreichte diese Rivalität an jener 1951er-Tour de Suisse, die von Zeitzeugen als die schönste, weil dramatischste überhaupt bezeichnet wird. Zweifelsfrei ist sie mit einer Gesamtstrecke von 1882 Kilometern die längste in der Geschichte
der Schweizer Rundfahrt. Sie leidet damals unter einer Art Grössenwahn, was die Dis-tanzen angeht: Jede Etappe übertrifft in jenem Jahr die Länge von 200 Kilometern; kein Wunder, erreichen am Ende bloss 49 von 79 Gestarteten das Ziel in der Radrennbahn Oerlikon.

 Koblet geht als Titelverteidiger und Sensationssieger des Giro d’Italia an den Start, Kübler als Gewinner der Tour de France. Noch vor (!) dem Startschuss der Auftaktetappe von Zürich nach Aarau erleidet Koblet seinen ersten Reifenschaden. Danach verläuft die Etappe ruhig, ausser dass eine geschlossene Bahnschranke den Ausreisser Jean Brun stoppt und Sieger Alfredo Martini mit viereinhalb Minuten Vorsprung erster Leader ist, was die beiden Favoriten jedoch nicht juckt. Tatsächlich verliert Martini bereits in der nächsten Halbetappe von Aarau nach Basel viel Zeit, weil sein Hinterradreifen den Dienst versagt und er sich beim Reparieren gemäss dem Berichterstatter der «National-Zeitung» als ungeschickt erweist. 

Währenddessen nimmt der KK-Zweikampf Fahrt auf: Kübler sichert sich dank seines Sprintsieges 30 Sekunden Bonifikation. -Koblet revanchiert sich in der zweiten Halbetappe von Basel nach Boncourt mit dem -Triumph in seiner Domäne, dem Zeitfahren, in dem er den anderen jeweils haushoch -überlegen ist. Damit liegt der Lebemann im Gesamtklassement vor dem seriösen Familienvater. Doch alle warten auf die Alpenetappen.

Die Überquerungen der Berge liefern tatsächlich das gewünschte Spektakel. Küblers Sieg von Gstaad nach Luzern lässt den Vorsprung seines Widersachers zwar schrumpfen. Trotzdem sind sich die Reporter einig, dass Koblet den frischeren Eindruck macht. In der sechsten «Marderetappe» (NZZ) mit ihren staubigen und kiesigen Strassenabschnitten von Luzern nach Lugano scheint sich dies zu bestätigen. «Als Koblet in der Schöllenenschlucht angreift, hat Kübler lahme Beine», so die «Basler Nachrichten». Auf dem Oberalppass beträgt Koblets Vorsprung bereits fast drei Minuten. «Aber mit des Geschickes Mächtigen ist lieber ewiger Bund zu flechten», heisst es in besagter Zeitung mit einem abgeänderten Zitat von Friedrich Schiller weiter. «Fünf Reifendefekte von Koblet stellten die Situation regelrecht auf den Kopf.» Der Pechvogel selber spricht gar von sieben Defekten, was wiederum Kübler anzweifelt: «Das ist unmöglich, denn Hugo hatte ja nur drei Schläuche bei sich, zudem war sein Materialwagen ausgefallen.» Sepp Renggli schlug die mathematische Mitte von fünf Pannen vor, fand aber wichtiger, dass Koblet beim letzten Zwangshalt «mutterseelenallein mit kaputtem Schlauch, gebrochenem Ventil und untauglicher Pumpe am Strassenrand stand», weil auch der Materialwagen einen Defekt erlitten hatte. Ein Zuschauer trieb «irgendwo und irgendwie die Pumpe eines alten Militärrades auf, die – o Wunder! – funktionierte». Trotzdem wird aus dem schönen Vorsprung ein Rückstand von acht Minuten auf Kübler, der im Vergleich zu den Momenten in der Schöllenenschlucht nicht mehr wiederzuerkennen ist.

Ferdy Kuebler und Hugo Koblet, Radsport, SI SPORT 01/2021, 1950 Tour de Suisse

Freundschaftliche Rivalen: Im Aufstieg 1951 durch die Schöllenenschlucht treiben sich die Schweizer Stars zu Höchstleistungen an.

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Ferdy Kuebler und Hugo Koblet, Radsport, SI SPORT 01/2021, 1954 Tour de France

Als Koblet 1954 während der Tour de France als Opfer eines Massensturzes im Spital von Bayonne landet, kümmert sich Kübler dort selbstlos um ihn.

Keystone
Ferdy Kuebler und Hugo Koblet, Radsport, SI SPORT 01/2021, Hugo Koblet Tour de Suisse 1951

Als Koblet 1951 als deutlich Führender auf dem Oberalppass mehrere «Plattfüsse» erleidet fährt ihm Kübler gnadenlos davon.

RDB

Auf der nächsten Etappe gibt Koblet nochmals alles – am Flüela kommt es zum Showdown und zum Duell Mann gegen Mann, nachdem alle anderen Fahrer abgehängt worden sind. Koblet attackiert ständig, fährt zwischendurch zwei Minuten Vorsprung heraus. Doch «Kübler verteidigt sein Goldtrikot wie ein Löwe» («Basler Nachrichten»). Nach der Ankunft in Davos umarmen sich die beiden, Kübler gratuliert Koblet zum Etappensieg und der seinem Widersacher zum Tour-Sieg. Tags darauf wiederholt er seine Gratulation nach letzten verzweifelten und zugleich erfolglosen Bemühungen kurz vor der Einfahrt auf die Radrennbahn Oerlikon: «Ferdy, du hast gewonnen.» Kübler spricht von einem «fast übermenschlichen Kampf», den er und sein Antipode sich geliefert hätten. Weil er keine Maschine sei, verzichtet er auf die anschliessende Tour de France. 

Koblet aber hat auf der «Grande Boucle» mehr Glück und siegt auch dank einer 136 Kilometer langen Flucht am Ende mit dem gewaltigen Vorsprung von 22 Minuten. Aber das ist wieder eine andere Geschichte.

Ferdy Kuebler und Hugo Koblet, Radsport, SI SPORT 01/2021,1952 Paris Roubaix,

Jugend-Idole: Ferdy Kübler (l.) und Hugo Koblet Hand in Hand im Ziel des Klassikers Paris–Roubaix von 1952. 

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Von Andreas W. Schmid am 23. April 2021 - 06:00 Uhr